Fall:
Die Beteiligten streiten um die Praxisnachfolge des Antragstellers in die Praxis des Abgebers. Der Antragsteller ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und wurde vom Zulassungsausschuss der KV Hessen zur Übernahme des gemäß § 103 Absatz 4 SGB V ausgeschriebenen Vertragsarztsitzes zugelassen. Der Antrag einer anderen Bewerberin wurde abgelehnt. Der Antragsteller und die andere Bewerberin verfügten beide über die erforderliche Facharztanerkennung. Die Zulassung des Antragstellers wurde vom Zulassungsausschuss auch damit begründet, dass der Wille des ausscheidenden Vertragsarztes bzw. seiner Erben eine zu berücksichtigende Tatsache sei, wenn die Praxis ausschließlich einem bestimmten Bewerber übertragen werden solle. Der Verkäufer könne nicht aufgrund eines Beschlusses der Zulassungsinstanzen gezwungen werden, einen entsprechenden zivilrechtlichen Vertrag mit einem Bewerber abzuschließen, den er aus nachvollziehbaren – keinesfalls nur wirtschaftlichen – Gründen als Nachfolger ablehne.
Gegen die Entscheidung des Zulassungsausschusses legte die Bewerberin Widerspruch ein. Die Verhandlungen mit dieser Bewerberin hatten nicht zu einem Ergebnis geführt, da sie und der Abgeber sich nicht auf einen Kaufpreis einigen konnten. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erklärte die Bewerberin jedoch, dass sie bereit sei, den aktuellen Verkehrswert zu bezahlen.
Da der Widerspruch die Entscheidung des Zulassungsausschusses aufschiebt, hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur sofortigen Vollziehbarkeit des Beschlusses des Zulassungsausschusses beantragt, um bis zur Entscheidung über den Widerspruch vertragsärztlich tätig werden zu können.
Beschluss des Sozialgerichts (SG) Marburg vom 25.11.2011 (Az. S 12 KA 797/11):
Der Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Beschlusses des Zulassungsausschusses ist unbegründet.
Nach der im einstweiligen Anordnungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist nach Ansicht des SG der Beschluss des Zulassungsausschusses über die Zulassung des Antragstellers rechtswidrig, da gegenwärtig kein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Zulassung bestehe.
Das SG argumentiert wie folgt:
„Unter mehreren Bewerbern, die die ausgeschriebene Praxis als Nachfolger des bisherigen Vertragsarztes fortführen wollen, hat der Zulassungsausschuss den Nachfolger nach pflichtgemäßem Ermessen auszuwählen (§ 103 Absatz 4 Satz 1 – 3 SGB V).
Für die Ermessensausübung zur Bewerberauswahl macht das Gesetz an verschiedenen Stellen Vorgaben, die verfassungsgemäß sind (vgl. BSG, Urt. v. 23.02.2005 – B 6 KA 81/03 R). So sind bei der Auswahl der Bewerber die berufliche Eignung, das Approbationsalter und die Dauer der ärztlichen Tätigkeit zu berücksichtigen, ferner, ob der Bewerber ein Ehegatte, ein Kind, ein angestellter Arzt des bisherigen Vertragsarztes oder ein Vertragsarzt ist, mit dem die Praxis bisher gemeinschaftlich ausgeübt wurde (§ 103 Absatz 4 Satz 4). Auch ist die Dauer der Eintragung in die Warteliste zu berücksichtigen (§ 103 Absatz 5 Satz 3) … Die Interessen des ausscheidenden Arztes oder seiner Erben sind nur insoweit zu berücksichtigen, als der Kaufpreis die Höhe des Verkehrswertes der Praxis nicht übersteigt (§ 103 Absatz 4 Satz 6).
Das Gesetz geht von einer Unterscheidung zwischen dem – öffentlich-rechtlichen – Vertragsarztsitz und der zivilrechtlich verkehrsfähigen – ärztlichen Praxis aus, wobei eine Kassenpraxis nur verkauft werden kann, wenn der Käufer auch eine Zulassung erhält. Mit der Beschränkung auf die wirtschaftlichen Interessen will der Gesetzgeber aber verhindern, dass ein Aufschlag für die Zulassung bezahlt werden muss. Von daher macht das Gesetz die Nachfolgezulassung nicht von einer vorherigen oder nachträglichen vertraglichen Einigung zwischen Nachfolger und dem früheren Praxisinhaber bzw. seiner Erben abhängig.
Andererseits hat die Entscheidung des Zulassungsausschusses über den Nachfolger nur zum Inhalt, dass ein bestimmter Arzt für einen bestimmten Vertragsarztsitz zur vertragsärztlichen Tätigkeit zugelassen wird. Der Nachfolger wird nicht automatisch Inhaber der ärztlichen Praxis des ausscheidenden Vertragsarztes. Dies setzt vielmehr einen privatrechtlichen Übernahmevertrag mit dem ausscheidenden Vertragsarzt bzw. seinen Erben voraus (vgl. BSG, Urteil vom 29.09.1999 – B 6 KA 1/99 R).
Lehnen der Vorgänger bzw. seine Erben einen Vertragsschluss in Höhe des Verkehrswertes ab, so kommt eine Praxisnachfolge nicht zustande … Ihr Recht auf Wiederholung der Ausschreibung geht dann verloren, wenn feststeht, dass der Praxisabgeber die Übergabe im ersten Verfahren aus Gründen, die vom Gesetz ausdrücklich nicht geschützt werden, hat scheitern lassen (vgl. BSG, Urteil vom 05.11.2003 – B 6 KA 11/03 R). Es ist Ausfluss ihrer Vertragsfreiheit und Verfügungsbefugnis über das Eigentum an der Praxis, die Praxis nicht an einen zugelassenen Bewerber zu übergeben. Damit erlischt allerdings ihr Verwertungsinteresse.
Ist andererseits ein Bewerber nicht bereit, den Verkehrswert nicht übersteigenden Kaufpreis zu zahlen, so kommt er bei der Auswahlentscheidung nicht in Betracht (vgl. SG Dortmund, Urteil vom 30.05.2001 – S 9 Ka 60/01).
Der einzelne Bewerber hat nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Eine Gewichtung der Auswahlkriterien untereinander sieht das Gesetz nicht vor (anders Schöbener / Schöbener, SGB 1994, Seite 215). Deshalb ist es Aufgabe der Zulassungsinstanzen, die Kriterien im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen gegeneinander abzuwägen (vgl. LSG Thüringen, Urteil vom 13.06.2000 – L 4 KA 29/97; SG Münster, Urteil vom 05.10.1995 – S 2 Ka 55/95).
Eine generelle Bevorzugung der Bewerber, die sich mit dem Praxisübergeber geeinigt haben, sieht das Gesetz nicht vor.
Ausgehend hiervon ist ein Ermessensfehler des Zulassungsausschusses festzustellen.
Der Zulassungsausschuss verkennt, dass nicht der Wille des ausscheidenden Vertragsarztes, wer Praxisnachfolger werden soll, sondern ausschließlich sein Verwertungsinteresse geschützt ist. Lediglich die Stellung als Ehegatte, Kind, angestellter Arzt oder Praxispartner zum die Praxis abgebenden Arzt können darüber hinaus berücksichtigt werden. Soweit der Zulassungsausschuss aus dem Umstand, dass der Praxisabgeber nicht zur Praxisübergabe gezwungen werden kann, folgert, dass sein Wille besonders zu beachten ist, so trifft dies nicht zu. Zwar steht es dem Praxisabgeber frei, ob er die Praxis verkauft, dies bedeutet aber nicht, dass er den Praxisnachfolger bestimmen oder aussuchen kann. Diese Entscheidung obliegt allein den Zulassungsinstanzen. Will der Praxisabgeber mit dem rechtsfehlerfrei ausgesuchten Praxisbewerber einen Vertrag nicht abschließen, so bedeutet dies nicht, dass der von ihm ausgesuchte Praxisbewerber auszuwählen ist, sondern es kommt zum Scheitern des Nachfolgeverfahrens. Die Praxis kann, soweit sie noch besteht, dann gegebenenfalls wiederholt ausgeschrieben werden. Soweit eine Praxis nicht mehr vorhanden ist, so kann dies im Ergebnis zur Vernichtung des wirtschaftlichen Werts der Praxis führen … Es besteht auch aus eigentumsrechtlicher Sicht keine Notwendigkeit, insofern die Willensfreiheit des Praxisabgebers zu schützen. Insofern verkennt der Zulassungsausschuss seinen Ermessensspielraum.“
Fazit:
Das SG macht deutlich, dass die Interessen des Praxisabgebers nur unter bestimmten Voraussetzungen – nämlich wenn der Kaufpreis den Verkehrswert der Praxis nicht übersteigt – bei der Ermessensentscheidung des Zulassungsausschusses Berücksichtigung finden dürfen. Geschützt ist nicht der Wille des abgebenden Vertragsarztes, wer Praxisnachfolger werden soll, sondern ausschließlich sein Verwertungsinteresse.
Unter Umständen kann die Entscheidung des SG Marburg daher in der Praxisnachfolge dazu führen, dass der Praxisabgeber zu Kompromissen mit einem nicht gewollten, aber zugelassenen Nachfolger bereit sein muss, um eine mögliche Vernichtung des Praxiswerts zu verhindern.